Die beinahe unglaubliche Geschichte von Rita und ihren
19 Schildkröten-Männchen
Eigentlich wollte ich einen Balkon haben – wie meine Liebe zu Schildkröten begann
von Rita KLEIN
Dezember 2018
2000 Euro liegen in der Spardose bereit. Im Frühling kann dann endlich der Bau meines Balkons beginnen. Ich freue mich darauf. Endlich bekommt die Balkontür im Wohnzimmer einen Sinn, man kann sie benutzen und ins Freie treten ohne 3 Meter in die Tiefe zu stürzen. Dann beim Familientreffen die verhängnisvolle Frage von Sabine, der Frau meines Neffen: „Rita, kennst du jemanden, der 19 Schildkröten aufnehmen kann?“ Nein, ich kenne niemanden.
Januar 2019
Es steht wieder ein Familientreffen an. Seit 4 Wochen spuken mir die 19 Schildkröten im Kopf herum. Ich habe oft an sie und ihr Schicksal gedacht. Deswegen ist meine erste Frage, als ich Sabine sehe: „Hast du schon einige Schildkröten vermitteln können?“ Die Antwort haut mich von den Füßen. „Die Schildkröten sollen alle zusammen bleiben. Sie lieben sich so. Wenn sie nicht zusammen vermittelt werden können, sollen sie nach der Starre eingeschläfert werden“. Der Gedanke, dass kein Tierarzt so etwas tun würde, kommt mir in diesem Moment nicht. In meinem Gehirn legt sich ein Schalter um und ich brenne. Diese Tiere müssen gerettet werden.
In den folgenden 4 Wochen drehen sich meine Gedanken nur um Schildkröten. Einiges weiß ich schon über die Tiere. Nicht umsonst schaue ich Zeit meines Lebens jede Naturdoku im Fernsehen, lese gern und viel und nutze das Internet als Enzyklopädie. Die grundlegenden Fragen sind schnell beantwortet: Ist der Garten groß genug? Ja! Ist Strom im Garten für die Wärmelampen? Ja! Na prima … ich könnte sie aufnehmen?!? 2000 Euro liegen bereit, damit kann ich ein Gehege bauen.
Februar 2019
Der Entschluss ist gefasst. Mein Sohn hat mir versichert die Schildkröten zu übernehmen, wenn ich mal auf einer Wolke das Hosianna singe. Ich rufe Sabine an, verkünde ihr die frohe Botschaft, damit sie die Besitzer der Schildkröten informiert. Am gleichen Tag noch ruft sie zurück und berichtet von der begeisterten Reaktion und der überschäumenden Freude der Besitzer. Ich bekomme die ersten Bilder zugemailt und bin entsetzt. Ich sehe höckrige Schildkröten auf einem Rasenstück sitzen und sie schmausen KOPFSALAT. Dann kommt ein Video an und ich sehe den Lebensraum der Tiere. Erbärmlich. Ein Rasenstück mit Pflanzsteinen in 2 Hälften getrennt. An der Seite einige Schlafhäuser. Ein Gewächshaus. Das war’s. Von dem natürlichen Habitat weit, sehr weit entfernt. Ich maile zurück und frage nach den nun überflüssigen Wärmelampen aus dem Gewächshaus. Leider ist das gar kein Gewächshaus für die Schildkröten mehr, erfahre ich dann. Früher, ganz früher, als der Vadder noch gelebt hat, da war das Haus für die Schildkröten. Jetzt ist es seit Jahren für die Tomaten. Ich kombiniere: Kalthaltung!!!
Das Herz rutscht mir in die Hose. Kalthaltung und falsche Ernährung bedeutet meistens kranke Tiere. Todkranke Tiere. Nun mache ich etwas, was ich nie tun wollte. Ich melde mich in einer Gruppe in den sozialen Medien an und lande gleich einen Glückstreffer. Stundenlang, tagelang, nächtelang sitze ich am PC und lese, lese, lese. Ich lerne: Kalthaltung verursacht Nierenschäden und Gicht. Tierarztkosten in astronomischer Höhe werden auf mich zukommen, die 2000 Euro schmelzen in meinen Gedanken auf ein winziges Centhäufchen zusammen. Ich überlege, von dem Handel zurück zu treten. Aber diese 19 Schildkröten, von denen ich bisher nur Bilder gesehen habe, haben sich schon in mein Herz eingenistet. Ich will sie haben, will sie retten, will ihnen ein artgerechtes Leben bieten. Das bedeutet: Sparen beim Gehegebau. Die tollen Frühbeete, die exklusiven Gewächshäuser kann ich mir aus dem Kopf schlagen, genau so wie die mediteran angehauchte Gehegeeinfriedung. Gebrauchte Holzdielen für die Umrandung (130 qm sind zu sichern), ein umgerüstetes gemauertes ehemaliges Pumpenhäuslein und ein selbstgezimmertes Schlechtwetterhaus müssen reichen. Der Bau kann beginnen.
März 2019
Ein Treffen zwischen den Besitzern und mir findet statt. Jetzt erfahre ich die letzten Details aus dem Leben meiner Schildkröten. Es sind lauter Männer!!! Sie essen gerne Salat, Tomaten, Gemüse und im Sommer viel Obst, wegen ihres Wasserbedarfs!!! Sie haben immer gestarrt. Im Außenkeller, in mit Stroh gefüllten Terrarien. 5 – 6 Monate lang!!! Papiere gibt es für die Tiere, aber keine Fotodokumentation, für 15 Schildkröten immerhin Schlüpflingsbilder!!! Ich schlucke und schweige. Bei manchen Menschen ist jedes Wort zu viel. Außerdem habe ich die Befürchtung, dass sie beleidigt abziehen, wenn ich sie belehre. Das wäre schrecklich für meine Schildkröten. Also mache ich gute Miene zum bösen Spiel und lächle, lächle bis zum Gesichtskrampf.
Das Gehege wächst nun jeden Tag. Meine Söhne und mein Neffe haben die Umfriedung gebastelt, ich baue Höhlen, Wege, Gebirge aus großen Steinen, Wasserstellen, einen Tunnel und pflanze ein, was ich so im restlichen Garten finde und verwendbar ist. Einiges muss ich kaufen, aber letztendlich entsteht ein passables Gehege für knapp 600 Euro. Das wird für den Anfang reichen. 1400 Euro stehen jetzt bereit für die Tierarztkosten und die drohenden Überlassungsverträge für die Tiere.
07. April 2019
Sie sind da. In 3 großen Wäschekörben werden die 19 Jungs gebracht. Die Nochbesitzer sortieren die 19 in die 2 Gehege ein. Sie werden getrennt in 10 Kleine und 9 Große. Meine Information lautete 7 Kleine, 12 Große. Also habe ich ein kleines innenliegendes Gehege für die Kleinen und ein großes äußeres Gehege für die Großen gebaut. Egal, das muss jetzt so gehen. Relativ schnell sind die Nichtmehrbesitzer wieder weg und ich bin mit meinen Jungs alleine. Das Abenteuer kann beginnen.
Mutter werden ist nicht schwer, Mutter sein dagegen …..
07. April 2019, nachmittags
Verzückt stehe ich am Gehege und beobachte die ersten Schritte meiner Kinder. Sie laufen – überraschend schnell – durch das Gelände und erkunden ihr neues Reich. Da wird über die Baumstämme geklettert und die Hügel erklommen. Ich muss lächeln bei dem Gedanken an die Worte der Vorbesitzer: „Am besten keine Klettermöglichkeiten anbieten, die fallen dann auf den Rücken und können sich alleine nicht mehr umdrehen.“ Ich bin erstaunt über die Agilität der Jungs. Auf den ersten Blick wirken sie nicht krank auf mich. Sie sind sehr höckrig und beim genaueren Hinsehen erkenne ich Schnäbelchen und Schnäbel. Heute will ich sie nicht noch mehr stressen, der Tag war schon anstrengend genug für sie. Immerhin sind sie ja erst gestern aus der Starre gekommen, wurden gebadet und mussten dann eine Nacht in ihren Schlafhäusern auf Rindenmulch gebettet bei 3 Grad im Freien verbringen. Und dann heute noch die Autofahrt in den Wäschekörben hierher. Das ist Stress genug. Also lasse ich sie den ganzen Nachmittag laufen. Das Wetter ist schön, ein wundervoller Frühlingstag.
Mittlerweile habe ich die Wärmelampen im alten Pumpenhäuslein eingeschaltet und die Schlafhäuser, die die Vorbesitzer mitgegeben haben, darin aufgestellt. Leider ist das Schlechtwetterhaus nicht fertig geworden. Ich hatte ja erst nächste Woche mit den Schildkröten gerechnet. Also müssen alle 19 in die winzige Hütte. Am Ende unseres ersten gemeinsamen Nachmittags laufen 12!!! Schildkröten freiwillig unter die wärmenden Baustrahler und den restlichen 7 verhelfe ich zu ihrer ersten Nacht mit künstlicher Wärme, die ich mit einem alten Elektroheizstrahler erzeuge.
08. April 2019
Unser erster ganzer gemeinsamer Tag beginnt. Die von einer Zeitschaltuhr gesteuerten Wärmelampen schalten sich ein, ich stehe erwartungsvoll im Gehege und warte auf meine ausgeschlafenen Schildkröten. Und warte. Und warte. Es tut sich nichts. Also kauere ich mich vorm Häuslein nieder und linse hinein. Alle liegen entspannt und friedlich neben-, auf- und übereinander und tanken Wärme.
Meine Jungs, die nie eine Wärmelampe gesehen haben, genießen und schweigen. Und wieder denke ich an eine Aussage der Vorbesitzer: „Unsere Schildis sind robust, wenn es zu kalt ist, schlafen sie einfach in ihren Schlafhäusern, ist ja Rindenmulch drin, da können sie sich eingraben.“
Ich freue mich mit meinen Krötchen und ziehe mich zurück auf meinen Beobachtungsposten am Wohnzimmerfenster. Stündlich, dann halbstündlich schaue ich nach den Herren und finde sie immer neu sortiert unter der künstlichen Sonne. Des mittags läute ich dann eine Baderunde ein. Vielleicht kann ich einen Blick auf das eine oder andere Urat erhaschen. Das würde mir dann ja Aufschluss über den Gesundheitszustand der jeweiligen Nieren geben. In lauwarmem Wasser bade ich dann 3 Stunden lang Schildkröten. Die gebadeten Tiere, dem Schlafhaus entnommen und ins Gehege entlassen, machen sich dann tatsächlich auf Nahrungssuche.
Beim Baden habe ich ausgiebig Gelegenheit meine Kleinen und Großen einer genauen Musterung zu unterziehen. Die Schnäbelchen sind teilweise grotesk. Die Panzer höckrig, bei manchem zu flach und einer sieht aus wie ein Pfannkuchen. Und dann gibt es noch einen, dem fehlen die halben Vorderbeinchen. Auf kurzen Stümpfen wackelt er herum, sein Panzer ist ganz hochgewölbt, aber komisch geformt. Es wirkt, als säße er falsch herum drin. Auf dem Rückenpanzer aller Schildkröten prangen bunte Farbmarkierungen. 3 blaue Punkte senkrecht, 3 rote Punkte waagrecht, 1 gelber Punkt in der Mitte usw. usw. Damit komme ich nicht klar, das kann sich ja kein Mensch merken. So kann ich die Jungs nie unterscheiden. Ich beschließe, sie mit den Buchstaben A-S zu kennzeichnen. Das erleichtert die Dokumentation, die ich zu führen beabsichtige.
Der Abend naht, einige Kröten finden wieder alleine in ihr Schlafhaus, andere haben sich im Gehege eher schlecht versteckt. Schnell habe ich alle gefunden und zu Bett getragen. Noch das Schlafhaus verrammeln und dann gehe ich zum hundertsten Mal an diesem Tag die Treppe nach oben und suche zum letzten Mal an diesem Tag meinen Beobachtungsposten auf. Noch ein letzter Blick auf das Gehege.
Gute Nacht, Jungs. Bis morgen.
09. April 2019
Heute ist Wiegetag und Fotodokumentation angesagt. Alle 19 werden auch ihren Buchstaben bekommen. Wie gestern auch verlässt keiner freiwillig den Platz unter der Höhensonne. Am späten Vormittag lege ich eine Futterspur, um sie heraus zu locken. Nach Augenmaß suche ich mir den Größten heraus und beginne mit A. A sieht wunderbar aus. Ein Panzer so rund wie eine Bowlingkugel. Sein Alter? Keine Ahnung. Die Papiere der Schildkröten bekomme ich erst nächste Woche. Das Wiegen dieses Riesenkerls erweist sich als schwer bis unmöglich. Mir fällt der Tipp aus der Facebookgruppe wieder ein und ich benutze eine Rolle Paketband als Wegfahrsperre. Es funktioniert gut und ich kann A’s Gewicht mit fast 1,5 kg ermitteln. Jetzt die Fotos. Er bekommt seinen Buchstaben auf den Panzer gemalt. Karopapier ist auf dem Tisch festgeklebt. Ich setze A auf das Papier, greife nach dem Fotoapparat und halte mit der anderen Hand A fest, der verzweifelt versucht zu fliehen. Kaum löse ich die Hand vom Panzer, um mit 2 Händen fotografieren zu können, sitzt der Kerl schon wieder schief auf dem Papier und ich muss ihn zurecht rücken. Ein ungleicher Kampf beginnt. 4 Beine gegen 2 Hände. Nach etwa 20 verwackelten, unscharfen Bildern gelingt endlich eine Aufnahme. Jetzt brauche ich noch das Foto vom Bauchpanzer. Hier kommt wieder die wertvolle Paketbandrolle zum Einsatz. A liegt auf dem Rücken, ich kann meine Hände von ihm lösen und das Foto machen. Er rudert wie verrückt mit den Beinchen, faucht und wirft sich ruckartig herum. Auch hier braucht es einige Fotos, bis ein Vernünftiges dabei herauskommt. Jetzt noch ein einziges brauchbares Bild von seinem Schnabelgesicht. Ich klemme mir das sich heftig wehrende Tierchen irgendwie unter den Arm und mache ein einziges Foto. Zu mehr fehlt mir die Kraft. Ich entlasse A in das Gehege und untersuche das Urat, das er mir als Abschiedsgeschenk direkt in die Hand gedrückt hat. Schön cremig, danke A. Völlig erschöpft lasse ich mich auf einen Gartenstuhl sinken und mir wird bewusst, dass diese Fotodokumentation nicht ganz so schnell erstellt sein wird. Mein Atem beruhigt sich langsam, ich erhebe mich, steige über die Gehegeumrandung und mache mich auf die Suche nach dem Nächstgrößten.
Am Ende des Tages habe ich dann doch alle Buchstaben auf die Panzer gemalt, alle sind gewogen und von jedem habe ich 3 mehr oder weniger gute Fotos von Bauchpanzer, Rückenpanzer und dem Schnabelgesicht. Das laminierte Karopapier wurde mehrmals mit Urat benetzt … immer schön cremig. Das beruhigt mich ungemein, vielleicht haben die kleinen Nieren durch die Kalthaltung ja doch keinen Schaden erlitten. Die Schnäbel muss der Tierarzt auf jeden Fall korrigieren. Nur 2 von 19 sehen ganz gut aus.
Den Abend dieses erschöpfenden Tages verbringe ich wieder einmal mit meiner Facebookgruppe. Die engagierten Admins begutachten die Bilder meiner Tiere und helfen mir bei der Auswahl, welches den Tierarzt am dringendsten nötig hat. Den mit Reptilien erfahrenen Tierarzt habe ich mir auf einer Liste, die die FB-Gruppe zur Verfügung stellt, ausgesucht und bei einem Telefonat erfahren, dass ich immer nur mit 6 bzw. 7 Tieren vorstellig werden kann. Mehr Tiere würden den Rahmen sprengen. Die Spezialisten finden auf den Bildern noch ein Tier (D) mit einer verletzten Kloake und C hat eine Verletzung am Bauchpanzer. Ausgestattet mit dem Wissen um die Reihenfolge für die 3 Tierarztbesuche falle ich ausgepowert in das noch ungemachte Bett und verdaue die Mahlzeit, die mein Mann zubereitet hat, denn auch dafür fehlte mir heute die Zeit.
10. April 2019
In der Nacht habe ich von Maden geträumt. Maden, die sich in offenen Wunden tummeln. Noch im Schlafanzug richte ich ein Notgehege im größten Wäschekorb meiner umfangreichen Wäschekorbsammlung ein. Mit Zeitungspapier ausgelegt, bestückt mit Wasserschale und Kartonhäuschen wartet es jetzt auf den verletzten D. Kaum sind die Tiere erwacht, pflücke ich den Unglücklichen aus der Menge und quartiere ihn ein. Seine Kloake ist wund und hat wohl auch geblutet. Der Anruf beim Tierarzt erfolgt pünktlich zur Öffnungszeit und ich höre zum ersten Mal die niederschmetternden Worte: „Der TA ist in Urlaub, aber die Vertretung, die keine Schildkrötenerfahrung hat, kann ja mal darauf schauen.“ Eine Stunde später sitzt D auf dem riesigen Behandlungstisch, die Vertretungstierärztin versorgt ihn und mich mit Desinfektionsmittel und Wundsalbe, bestätigt mir die Haltung auf Zeitungspapier bis zum Verheilen der Wunde und gibt mir einen wertvollen Fütterungsvorschlag mit auf den Heimweg: Kohlkopf soll ich ihm füttern. Ich zahle 44 Euro, habe 2 Medikamente in der Tasche und D wohnt die nächsten 3 Tage bei mir im Wohnzimmer und langweilt sich dabei fast zu Tode. Die Tierarzttermine für die restliche Bande finden erst Ende des Monats statt. Die Vertretung kann keine Schnäbel korrigieren. Da alle Krötchen gut fressen können, kann ich den Termin so akzeptieren. Ich würde ungern einen anderen Reptilienspezialisten aufsuchen, denn der von mir ausgesuchte TA ist nur 10 km von mir entfernt.
In den nächsten Tagen verbringe ich viel Zeit mit meinen Jungs im und am Gehege. Mein Sohn hilft mir das Schlechtwetterhaus fertig zu bauen. Jetzt müssen die Krötchen sich nicht mehr den wenigen Platz teilen. Nachts verteilen sie sich auf die 2 Häuschen und ich muss abends immer weniger von ihnen aus ihren schlechten Verstecken holen. Mit dem Fotoapparat bewaffnet dokumentiere ich bei schönem Wetter bei den Großen sehr viele sexuelle Aktivitäten. Je wärmer die Tage, desto aktiver sind die Jungs mit ihren sinnlosen Vermehrungsversuchen beschäftigt. Jeder darf mal ran und jeder muss auch mal herhalten. Jetzt weiß ich auch, wo D seine Verletzung her hat. Er ist inzwischen wieder im Gehege dabei und ist bedeutend zurückhaltender. Aus Erfahrung wird man wohl klug.
13. April 2019
Die Vorbesitzer haben mir einen dicken Ordner mit den Papieren der Tiere gebracht. Die angeblich noch massenhaft vorhandenen Sepiaschalen dagegen haben sie vergessen. Die Tiere wurden von ihnen abgemeldet und nun ist es meine Aufgabe, sie wieder anzumelden. Ich weiß ja schon, dass die Fotodokumentation vernachlässigt wurde und die Papiere somit eigentlich ungültig sind. Aber immerhin weiß ich jetzt, wie alt sie sind. Der älteste ist 1990 geschlüpft, 2 sind von 1992 und einer kroch 1998 aus dem Ei. Von diesen 4 Kerlchen gibt es keine Bilder. Schlüpflingsbilder gibt es immerhin von den restlichen 15. Davon sind 2 aus 2007, 4 aus 2008, 3 aus 2009 und 6 aus 2010. Alle diese Bilder sehen in meinen Augen fast identisch aus. Sie sind von schlechter Qualität und bei einigen liegt sogar nur eine miserable Kopie vor. Ich versuche, die Tierchen anhand ihres Gewichts zuzuordnen und scheitere kläglich. Und wieder helfen die sagenhaften Leute aus der FB-Gruppe. Stundenlang studieren sie die Bilder der Schlüpflinge und vergleichen sie mit den Bildern, die ich gemacht habe. Schließlich können tatsächlich viele Tiere den Papieren zugeordnet werden. Ausgestattet mit diesem Wissen und gespitzter Engelszunge telefoniere ich montags mit dem zuständigen Amt und erfahre, dass der zuständige Beamte im Urlaub ist. Das bedeutet eine 8tägige Galgenfrist für mich und meinen Geldbeutel. 30 Euro wird ein Überlassungsvertrag pro Tier kosten, also fast 600 Euro. Aber ich habe doch eine klitzekleine Hoffnung, dies abwenden zu können. Vielleicht lässt der Mann ja mit sich reden.
14. – 21. April 2019
Ich lerne meine Babys langsam kennen. Ich erkenne A und C als Chefs in der Gruppe der Großen. G, der Pfannkuchen, hat auch Boss-Ambitionen. Die triebgesteuerten Aktivitäten lassen nach und es beginnen Revierkämpfe. Noch haben sie nicht das ganze Gehege erobert, den ganzen hinteren Teil lassen sie außer Acht. In die letzte Ecke des Geheges baue ich eine Art stille Treppe. Dorthin trage ich die „böse“ Schildkröte, wenn ich in einen Kampf mit Beißerei einschreiten muss. Bis der Verbannte die Gruppe wieder erreicht, vergeht mindestens eine halbe Stunde. Bis dahin hat er meistens vergessen, worum es eigentlich ging. Auf diesem Weg lernen die Chefs das Restgehege kennen. Wenn ich mich nicht im oder am Gehege aufhalte, bin ich auf meinem Beobachtungsposten im Wohnzimmer. Niemand im Haus darf Geräusche machen, damit ich immer auf die Klopfgeräusche der kämpfenden Panzertiere lauschen kann. Bei jedem länger anhaltenden Klopfen sause ich die Treppe hinunter und kontrolliere das Geschehen. So habe ich auch das ein oder andere Mal meinen Nachbarn beim Handwerken erwischt. Bei meinen Kleinen gibt es nur 2 Rambos, die schon die Freuden der Fortpflanzung entdeckt haben. Aber meistens haben sie genug damit zu tun in langen Schlangen hintereinander herzulaufen, übereinander zu purzeln, den Tunnel zu durchwandern und darauf zu warten, M mit den Stummelbeinchen das Futter abzujagen.
22. April 2019
Der richtige Zeitpunkt für das wichtige Gespräch mit dem hoffentlich kooperativen Beamten ist gekommen. Meine Stimme ist mit Kaffee gesalbt. Wir führen ein nettes Gespräch, in dem ich die Verhältnisse schildere und er kommt zu dem Ergebnis, dass die Papiere so nicht gültig sind und es zu Überlassungsverträgen kommen muss. Einen Überlassungsvertrag hat er jedoch noch nie ausgestellt und muss sich erst schlau machen, was zu tun ist. Wir vereinbaren, dass ich ihm die Papiere mit einer aktuellen korrekten Fotodokumentation aller Tiere vorlege und er sich dann wieder bei mir meldet. Ich teile noch mit, dass bei mir einige Urlaubstage anstehen und das Gespräch ist zu Ende.
23. – 28. April 2019
Die Fotodokumentation meiner Kinder muss wiederholt werden. Die Bilder, die ich bereits angefertigt habe, sind nicht ganz korrekt. Der Zollstock fehlt, das Gewicht ist nicht vermerkt und den richtigen Winkel habe ich auch nicht immer getroffen. Den Tag der ersten Dokumentation habe ich noch gut in Erinnerung. Es war der totale Stress. Für die Jungs und für mich. Deshalb bereite ich mich dieses Mal besser darauf vor. Ich klebe auf einen stabilen Kistendeckel den Zollstock und das laminierte Karopapier fest. Auf dem Rand des Papiers wird der jeweilige Buchstabe, das Gewicht und das Datum notiert. Und dann gehe ich zu meinen Tieren in das Gehege, besuche entspannt ruhende Tiere und kann sehr schöne Fotos machen. In mehreren Tagen entsteht so eine korrekte Dokumentation. Abends ordne ich die Bilder nach den Angaben der Schildkröten-Experten den vorhandenen Papieren zu. Am Ende dieser Woche kann ich den neu erworbenen Ordner mit den aufbereiteten Papieren meinem netten Beamten bzw. dessen Kollegen übergeben.
29. April 2019
Der erste Tierarztbesuch steht heute auf dem Plan. Die ersten 6 Jungs bekommen ein neues Gesicht. Die Transportkisten sind mit Zeitungspapier ausgelegt, ich rechne mit ordentlichem Angstschiss. Wir fahren los und 30 Minuten später lerne ich den wohl nettesten Tierarzt der Welt kennen. Eine Stunde lang behandelt er ein Tier nach dem anderen, formt Schnäbel, versorgt den Bauchpanzer von C und stellt anhand einer mikroskopischen Untersuchung des reichlich vorhandenen Kots aus den Kisten fest, dass sie entwurmt werden müssen. In meinen Ohren klingt der Satz der Vorbesitzer: „Wir haben die Schildis jedes Jahr 4 Wochen vor der Starre entwurmt“. Am Ende der Woche sind alle 19 Herren entwurmt, 17 von ihnen haben eine Schnabelkorrektur über sich ergehen lassen müssen und alle müssen in 14 Tagen noch einmal zum Entwurmen kommen. Insgesamt habe ich diese Woche 3 Stunden in dieser Praxis verbracht und heute habe ich den Geldbeutel dabei. Der Gott der Tierärzte verblüfft mich mit einer minimalistischen Rechnung. Dieser liebste Tierarzt des Universums hat mir 3 Stunden lang alle meine Fragen beantwortet, hat 3 Stunden lang sein Wissen mit mir geteilt, hat alle Tiere behandelt und mir dann noch ein tolles Futterbuch geschenkt. Mir fehlen die Worte. In meinem Schildkrötengeldbeutel sind noch 1200 Euro.
30. April 2019 – 05. Mai 2019
Der Urlaub steht vor der Tür. Das erste Mal in meinem Leben freue ich mich nicht darauf. Bedeutet es doch, dass ich meine Babys, meine Kinder, meine mir so ans Herz gewachsenen Lieblinge der Obhut einer ihnen völlig fremden Person überlassen muss. Bei dieser Person handelt es sich um Alex, die mit ihrem Partner bei mir im Haus in der Dachwohnung wohnt. Stundenlang krieche ich durch die Futterwiese im Garten und entferne Pflanzen, die nicht für die Jungs geeignet sind. Zur Sicherheit fotografiere ich alle geeigneten Futterpflanzen und lege auf dem PC einen Ordner an, auf den Alex Zugriff hat. Die Zeitschaltuhren regeln die Wärmelampen, darum braucht sich niemand zu kümmern. Egal wie das Wetter wird, sie sollen strahlen. Schließlich ist tagsüber niemand im Haus und das Wetter könnte umschlagen.
06. – 16. Mai 2019
Der Urlaub dauert und dauert und will gar kein Ende nehmen. Erholung ist das nicht. Meine Gedanken sind zu Hause, Alex hält mich täglich auf dem Laufenden. Einmal ist eine Birne im Baustrahler kaputt, sie wird gewechselt. Alles ist in Ordnung, bald bin ich wieder da.
17. Mai 2019
Gott sei Dank!!! In der Nacht sind wir nach Hause gekommen und mein erster Weg am Morgen führt mich zu meinen Krötchen. Meine Wiedersehensfreude ist riesengroß. Die der Kröten hält sich in Grenzen. Keiner jubelt oder hüpft freudenstrahlend durch das Gehege. Nur ich. Wahrscheinlich ahnen sie, dass sie heute wieder Tierarzttermin haben. Nachmittags werden alle in große Wäschekörbe gepackt, die Chefs reisen in Einzelboxen. Beim Tierarzt angekommen werden meine verkackten kleinen Scheißerchen ein letztes Mal entwurmt und noch einmal vom besten Tierarzt aller Galaxien begutachtet. Auf der Heimfahrt befinden sich noch 1150 Euro in der Krötenkasse.
20. Mai 2019
Es ist Zeit beim Amt nachzufragen, ob schon eine Entscheidung in meiner Sache getroffen wurde. Mein netter Beamter ist sofort am Telefon. Und dann sagt er …. Trommelwirbel in meinen Ohren ….. „Ich habe die restlichen Schildkröten zugeordnet, das war ja nicht mehr schwer.“ (Vielen, vielen Dank an das FB-Gruppen-Team) „Wir brauchen keine Überlassungsverträge, die Tiere sind jetzt ordnungsgemäß auf Sie angemeldet.“ Post an mich sei unterwegs, sagt er noch und den Ordner könne ich abholen.
Eine Haube aus Glückseligkeit senkt sich über mich. Ich habe meine Kinder bekommen. Sie gehören zu mir und niemand kann sie mir mehr nehmen.